Kurz vor dem Aufwachen aus einem unruhigen Schlaf, in den Rosa Luxemburg während des Schreibens an ihrem Manuskript gefallen ist, läuft das Schauspiel im Kopf auf Hochtouren. Die Blätter ihres Textes „Das Offiziösentum der Theorie“ liegen unsortiert, dicht beschrieben auf dem Schreibtisch. Mit dem Kopf ruht sie auf der Tischplatte, eingeklemmt dazwischen eine Manuskriptseite mit der Textpassage [1]:
…zusammen mit diesem revisionistischen Drittel die Mehrheit gebildet hat, das war jene unentschlossene und schwankende Schicht der Mitte, die Bebel in Dresden, nach den bekannten Bezeichnungen des Konvents der Großen Französischen Revolution, den Sumpf genannt hat:
„Es ist immer und ewig der alte Kampf, hier links, dort rechts, und dazwischen der Sumpf. Das sind die Elemente, die nie wissen, was sie wollen, oder, besser gesagt, die nie sagen, was sie wollen. Das sind die ‚Schlaumeier‘, die immer erst horchen: Wie steht‘s da, wie steht‘s hier? die immer spüren, wo die Majorität ist, und dorthin gehen sie dann. Diese Sorte haben wir auch in unsrer Partei. Eine ganze Anzahl ist jetzt bei diesen Verhandlungen ans Licht des Tages gekommen. Man muss diese Parteigenossen denunzieren (Zuruf: ‚Denunzieren!?‘), ja, ich sage ja, denunzieren, damit die Genossen wissen, was das für halbe Leute sind. Der Mann, der wenigstens offen seinen Standpunkt vertritt, bei dem weiß ich, woran ich bin, mit dem kann ich kämpfen, entweder er siegt oder ich, aber die faulen Elemente, die sich immer drücken und jeder klaren Entscheidung aus dem Wege gehen, die immer wieder sagen: Wir sind ja alle einig, sind ja alle Brüder, das sind die allerschlimmsten! Die bekämpfe ich am allermeisten.“
Die Rolle dieses „Sumpfes“ ist — trotz der Unentschiedenheit…
Um sie nicht um ihre verdiente, wenn auch unruhige Ruhe zu bringen, begeben wir uns leise an den Platz des Schauspiels im Inneren ihres Kopfes.
Hier nun befindet sie sich schreibend ebenfalls in diesem Zimmer, in dem sie gerade schläft. Nach einem sonnigen, ruhigen Tag, den sie vorwiegend schreibend verbrachte, beginnt es dunkel zu werden und beim Strecken des angestrengten Rückens, fällt ihr Blick auf den Kalender. Mit dem Erkennen der Jahreszahl, die das Jahr 2013 zeigt, hier muss dem Drucker ein Fehler unterlaufen sein oder sich jemand einen Spaß erlaubt haben, wechselt plötzlich der Ort an dem sie sich befindet.
Aus ihrer Welt gerissen steht sie in einem Garten mit Geräuschen und Gerüchen, die ihr nicht unbekannt, doch verändert, befremdlich vorkommen. Aus einer offenen Tür dringen Gläserklirren, Stimmfetzen und Gelächter, wie von einer ausgelassenen Gesellschaft an ihre Ohren, hinaus auf die Straße und in den Garten, in dem sie eingesunken bis zur Hüfte steht. Ihre Kleidung ist ihr zu groß, einem Reptilienpanzer ähnlich aufgebauscht, so dass sie nicht am Körper anliegt. Wachse ich noch hinein? Schützt er mich? Vor ihr stehen eine Anzahl Stühle ohne Sitzfläche, die wie sie, eingesunken in der Fläche stehen. Hat sich die nicht festlegende, wankelmütige Mitte endlich aufgemacht um Position zu beziehen? Können diese Stühle endlich versinken oder muss sie weiterhin an ihnen rütteln um sie aufzurichten, um sie endlich frei zu bekommen?
Während sie in ihre Fragen versunken ist, treten aus der Tür, die auf einer tieferen Ebene liegt als ihre Gartenfläche, Personen aus der feiernden Gesellschaft. Wer feiert wen? Was hat sich geändert auf dem Weg zu einem guten Leben? Sie schaut zu ihnen, hebt den Arm um ihnen zu winken
und wacht auf, lächelt, ich bin noch da…1913.
[1] In: Rosa Luxemburg-Gesammelte Werke, Band 3, Berlin 1973